Chinas letzte Dampflokomotiven / by Juergen Wisckow

Schon viel wurde über dieses Thema geschrieben, für mich war es immer ein Bericht aus einer anderen, fremden und unerreichbaren Welt.
Vom Jingpeng Pass war da die Rede, vom Lokomotivbau in Datong und vom Einsatz zahlreicher Dampfloks in altertümlich anmutenden Stahlwerken. All das habe ich nicht mehr erleben dürfen, erst 2014 war mir der erste Besuch in Chinas letzten Dampf Eldorados möglich. Inzwischen habe ich die fünfte intensive China Reise in den frostigen Winter der inneren Mongolei hinter mir.
Text und Bilder wie immer auf dieser Homepage: Jürgen Wisckow

Während die erste Fototour in den Nordosten Chinas führte und die letzten dampfgeführten Personenzüge um Diaobingshan zum Ziel hatte, wurde später ausgiebig der Dampfbetrieb in Fuxin mit der beeindruckenden Szenerie der Kohleminen verewigt. Neben Förderturm und Abraumhalde gibt es aber auch andere fotogene Motive, das alltägliche Leben in einem fremden Kulturkreis zeigt hier die Welt in einem neuen Licht. Nur der speziell auf Erholung und "all inclusive" geeichte Urlauber geht dabei leer aus.
Neben Fuxin gab es weitere lohnende Destinationen: Pingzhuang, Baiyin, Diaobingshan, Yuanbaoshan waren die in den letzten Jahren meist besuchten Orte. Inzwischen hat keiner mehr irgendeinen Dampfbetrieb aufzuweisen - vorbei, dem Fortschritt geopfert.
Wer heute einen allerletzten Blick auf hart arbeitende Dampfloks im regulären Güterzugdienst auf Normalspurgleisen werfen will, muss sandere Länder bereisen! Als einzig verbliebenes Ziel für den Eisenbahnfan und Industriearchäologen verblieb bis 2023 nur noch das im äußersten Nordwesten gelegene Gebiet der Kohlezechen um Sandaoling. Aber das ist unwiederbringlich Geschichte.
Was für ein Schauspiel bot sich hier:
... ich sitze am Rand des Canyons und blicke in die Tiefe, unter mir tobt in voller Kraftentfaltung ein stählerner Zeuge der industriellen Revolution mit einer Schlange voll beladener Kohlewagons ans Licht der dunstverhangenen Sonne...
So poetisch angehaucht kann ich beschreiben, was sich dort im letzten Winkel Chinas täglich abspielte.
Hier, im äußersten Nordwesten Chinas, der autonomen uigurischen Provinz Xinjiang, waren bis 2023 noch Lok der Reihe JS (Jian She = Aufbau) im weltweit größten planmäßigen Einsatz.
Während vor 20 Jahren in China über 4000, Anfang der 1980er sogar die für diese Zeit unvorstellbare Zahl von gut 10.000 Dampflokomotiven vor Güter- und Personenzügen eingesetzt waren, ging die Ära der Feuerdrachen hier in der gigantischen Kohlemine von Sandaoling spektakulär zu Ende.
Damals bildete die legendäre Baureihe QJ (Qian Jin = Fortschritt) das Rückgrat des staatlichen Eisenbahnverkehrs, während meiner Reisen ist die Reihe JS das fast einzig verbliebene Zugpferd im industriellen Einsatz: Mit der Achsfolge 1'D1', 23m Länge und über 2200 PS ziehen die für den Güterverkehr gebauten Maschinen, unter größter Anstrengung, Steinkohlezüge aus den Tagebaugruben. Im Glücksfall geschieht dies alle 15 Minuten, manchmal aber auch nur im 4-Stundentakt. Die unter Tage gewonnene Menge an Kohle bestimmt den Fahrplan. Das dabei stattfindende Schauspiel ist für jeden Eisenbahn- und Technik-Freak die lange Reise wert, obwohl doch von Beijing noch weitere gut 3000km Flug nach Hami (alternativ nach Urumqi) mit anschließender Autofahrt nötig sind, um ins letzte Dampflokparadies zu kommen.
Die Loks der Reihe JS, bis ins Jahr 1988 in der legendären Lokfabrik Datong gebaute Stahlrösser, zeigen hier in einem letzten Aufbäumen, was sie zu leisten in der Lage sind! Sensationelle Steigungs-Anfahrten sowohl am Tag als auch nachts entschädigen den Dampfeisenbahn-Enthusiasten für miese Unterkünfte und eine lungenschädigende Luft in unwirtlicher Gegend. Staub und Russ überall, Luft- und Gewässerverschmutzung, wahrlich keine Urlaubsregion, in die man sich hier begibt.
Was sich neben der technikgeschichtlichen Reise in vergangene Zeiten zeigt, das sind die sozialen und kulturellen Aspekte einer Nation im stetigen Wandel. China ist ein Land voller Gegensätze: Arbeitsbedingungen aus Zeiten der industriellen Revolution stehen hochtechnisierten Produktionsmethoden der digitalen Neuzeit gegenüber. Die Kluft zwischen einer Generation und der nächsten ist manchmal so groß wie zwischen Opa und Ur-Ur-Enkel.
China befindet sich seit vielen Jahren auf der Überholspur, es überholt sich geradezu selbst. Immer seltener werden die traditionellen Behausungen, die Hutongs, ganze Stadtteile aus standardisierten Hochhäusern schießen aus dem Boden. Hier die Betontrasse für den nagelneuen High Speed Train, dort die mit altertümlichen Dampflok betriebene Waldbahn. Hier die Zeichen massiver Umweltzerstörung, dort enorme finanzielle Investitionen in den Umweltschutz. Trotz abschreckender Beispiele rücksichtsloser Ausbeutung der Natur in den Medien: China setzt inzwischen auf erneuerbare Energien und will den Ruf als Schmutzfink loswerden.
Bald werde ich zu meiner nächsten (und letzten?) Fotoreise in das Land der Feuerdrachen aufbrechen, in die endlose Wüste der Provinz Xinjiang.

Aktuell sind weitere Reisen dorthin nicht geplant - zu sehr stört mich die Behandlung der Uiguren - verbunden mit einer allumfassenden Überwachung, die ein “Hinter-die-Kulissen-Schauen” quasi unmöglich macht.